Drachentinte – Kurzgeschichte zum #phantastischermontag

1

Vor einiger Zeit riefen vier Autor*innen aus Berlin den Phantastischen Montag ins Leben! Die Idee dahinter: Zu einem monatlichen Thema wird jeden Montag eine Kurzgeschichte präsentiert, je von einem anderen Autor/ einer anderen Autorin. Da manche Monate, wie auch der November, aber fünf Monate haben, gibt es hin und wieder die Chance für einen Gastschreiber, eine Geschichte zu dieser Aktion beizusteuern. Vier Geschichten gab es schon zu dem Thema: „Einfach Märchenhaft“ von Carola Wolff, „Beziehung für Fortgeschrittene“ von C.A. Raaven, „Wechselbalg“ von Alexa Pukall und „Blaue Stunde“ von Maike Stein.

Deswegen hatte ich das Glück, eine Geschichte zum Thema „Gestaltenwandler“ im November schreiben zu können, um euch am letzten Tag vor der Adventszeit in eine urbane Fantasywelt zu entführen. Viel Spaß mit meiner Kurzgeschichte!

Drachentinte

Eric war tot.

Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Sie atmete tief ein und aus, dann rannte sie los. Der Asphalt flog unter ihren Füßen dahin, ihre Sohlen kratzten bei jedem Schritt ein paar Millimeter über die raue Oberfläche, bevor sie sich wieder abstieß und weiterlief. Sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte sich zu konzentrieren. Tränen strömten nass über ihre Wange, während sich diese hässliche Gewissheit weiter in ihr ausbreitete. Ihr Bruder war tot. Sie hatte es aus Latishas Mund gehört und Latisha log nie.

Ein ihr allzu bekanntes Jucken breitete sich von einem Punkt zwischen ihren Schulterblättern über ihren gesamten Rücken aus. Verdammt. Nicht mehr lange. Nur noch einen knappen Kilometer bis zum Versteck dieser Banditen. Dieser Verbrecher, dieser Mörder, die Schuld daran hatten, dass Eric nicht mehr atmete, dass die Fehde zwischen den Wandler-Clans ein weiteres Leben gekostet hatte. Sie konnte es kaum erwarten, ihre bepelzte Haut unter ihren Fingern platzen zu lassen, ihnen die Kehlen aufzureißen und das siegessichere Lächeln aus ihren Gesichtern zu tilgen.

Nur noch ein paar Meter. Ein paar gleichmäßige Schritte. Eins und zwei und eins.

Dann stand sie plötzlich vor der Lagerhalle, in der sich die Wölfe verkrochen. Sie hörte Schreie, doch ignorierte sie. Selbst als mehrere Männer auf sie zustürmten, wich sie nicht zurück.

Sie schaute hinab auf die Tätowierungen, die ihren ganzen Körper überzogen, deren Ränder in einem intensiven Blau zu leuchten begannen. Schuppen zeichneten sich ab, lösten sich von den Bildern aus schwarzer Tinte auf ihrer Haut, um sich wieder auf sie niederzulegen. Blauglänzende Schuppen. Ihre Finger dehnten sich, wurden zu Krallen. Sie wurde vom Boden weggeschoben, wuchs immer höher. Schuppen krabbelten über ihren ganzen Rücken, bis zu ihren Füßen.

Als die Flügel aus ihrem Rücken brachen, hatte ihr Brüllen nichts Menschliches mehr. Von Sekunde zu Sekunde wurde ihr Blick schärfer, ihre Sinne stärker. Sie entdeckte die Menschen sofort. Auch sie verwandelten sich, als sie auf sie zukamen. Ihre Kiefer zuckten, als monströse Zähne aus dem Knochen brachen und ihre Haut bedeckte sich mit einem kurzen dichten Pelz. Aber Tasya ließ ihnen keine Zeit. Sie preschte vor und fegte die ersten mit ihren Krallen beiseite. Sie versenkte die Zähne in der Haut des ersten, der ihr vor das Maul kam. Metallischer Blutgeschmack verteilte sich in ihrem Mund und sie ließ den schlappen Körper achtlos auf den Boden fallen.

Ein brennender Schmerz schoss durch ihr rechtes Hinterbein. Fauchend wirbelte sie herum. Verdammt, sie musste einen klaren Kopf bewahren.

Sie war stark, vielleicht die stärkste ihres Clans, aber ihre Kraft nicht unendlich. Aber das war ihr gleich. Sie war nicht hergekommen, um wieder zu entkommen. Sie war gekommen, um so viele Wölfe wie möglich mit sich in die Hölle zu reißen.

Ein Brüllen hinter ihr ließ sie herumfahren. Schon in der Bewegung wummerte ihr Herz in der Brust – ein Drachenschrei.

Kurz hinter dem Eingang, den abstoßenden Maschendrahtzaun im Rücken, kauerte ein weißer Drache, den Tasya noch nie zuvor gesehen hatte. Ja, sie kannte bei weitem nicht all ihre Geschwister in ihrer vollen Verwandlung, aber zumindest die Farbe der Schuppen konnte sie benennen. Und Weiß war ihr fremd.

Dann richtete sich der Drache auf. Seine Glieder waren merkwürdig dünn, als könne sie bereits der kleinste Windhauch zerbrechen und die Flügelhaut fast so durchscheinend wie Wasser.
Der weiße Drache bleckte feindselig die Zähne. Er kam ihr bekannt vor, so wahnsinnig bekannt. Dieses Gesicht, diese Züge, der Ausdruck …

Latisha. Sie musste es sein. Zwar hatte sie ihre Schwester noch nie völlig in Verwandlung gesehen, doch es hatte Anzeichen gegeben.

Nun erkannte sie es so klar, dass sie nicht mehr wegschauen konnte. Jede ihrer Bewegungen, jedes Detail an ihrem Körper schrie es ihr entgegen. Das hier war Latisha. Die Anführerin ihres Clans. Die sich nie verwandelte, niemals. Außer jetzt. Für sie. Tasays Herz wurde groß und schwer. Es verdrängte die Wut und erlahmte ihre Bewegungen.

Aber es war ohnehin niemand mehr da, den sie töten konnte. Um sie herum nichts als Blut und Leichen. Sie schienen sich im Angesicht von zwei Drachen zurückgezogen zu haben.

Latisha kam langsam auf sie zu.

Beruhige dich, ertönte ihre Stimme in Tasyas Kopf, so klar und deutlich, als würde sie direkt neben ihrem Ohr stehen. Du hast sie alle besiegt. Es ist vorbei.

Tasyas Kopf verstand die Worte, doch ihr Körper nicht. Noch immer zitterte sie. Noch immer pulsierte der Durst nach Blut in ihr und wollte sie überwältigen.

Alles ist gut, Tasya.

Tasyas Atem wurde langsamer. Ihre Krallen schabten über den Boden und sie schaute hinab. Hell schimmerte ihre Haut zwischen den Schuppen hindurch, als diese sich wieder zurückzogen, zusammenschrumpften bis auf schwarze Linien, die sich auf ihre Haut legten. Sie schaffte es zurück. Und Latisha war direkt bei ihr.

Als sie wieder Menschen waren, zog sie sie in ihre Arme. Ihre nackte Haut drückte aufeinander, denn ihre Kleidung hatte der Verwandlung nicht standgehalten.

„Es tut mir leid“, flüsterte Tasya.

„Es gibt nichts, das dir leidtun muss“, erwiderte ihre Schwester. „Du hast sie alle besiegt.“

„Wieso Eric?“, flüsterte sie.

Latisha schwieg einige Sekunden. „Weil er so stark war. Er war zu stark. Er hätte eine Bedrohung werden können.“

Tasya hob den Blick und sah, dass ihre Schwester weinte. Es verwunderte sie, denn sie hatte nicht gewusst, dass sie überhaupt zu Tränen fähig war.

„Er war zu stark“, fuhr sie fort. „Es ist nie gut, wenn sich einzelne erheben. Wenn einzelne aus der Menge hervorstechen, diese aber nicht anführen wollen.“

„Wovon sprichst du?“, fragte Tasya.

„Er war zu stark“, flüsterte Latisha. Ihre Wangen glänzten nass. „Und du bist es noch immer.“

Tasya öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, aber sie war zu langsam. Sie verstand zu langsam. Sie reagierte zu langsam.

Latishas Kopf zuckte vor und Drachenzähne bohrten sich in Tasyas Kehle. Schmerz explodierte unter ihrem Kopf. Sie fiel auf den Rücken, keuchte, röchelte, als das Blut aus ihr hinausfloss. Es dauerte nicht lang, da wich der Schmerz einer laut pochenden Taubheit.

Latisha erschien über ihr und sah auf sie hinab, Gesicht und Hals blutverschmiert.

Tasya hob eine Hand. Sie wollte etwas sagen, aber brachte nur ein heiseres Röcheln hervor. Ein Blick auf ihre Finger zeigte ihr, dass sie über und über mit blauen Schuppen bedeckt waren. Ihr Körper kehrte zurück.

„Ich will dich beruhigen, Tasya“, flüsterte Latisha. „Eric starb nicht wie ein Hund. Er starb als Drache. Genau wie du.“

Ende

Ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen! Lasst gern einen Kommentar da 🙂


Related Posts

One Reply to “Drachentinte – Kurzgeschichte zum #phantastischermontag”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© Lena Knodt. All Right Reserved
Proudly powered by WordPress | Theme: Shree Clean by Canyon Themes.